Interview mit dem Alumnus Karl Stahl

Karl Stahl

Nach seinem Ausstieg aus dem Berufsleben fand der frühere Chemie-Student mit 65 Jahren eine neue Liebe: seit er mit seiner Frau erstmal den Norden Kanadas bereiste, ist er, wie er selbst sagt, vom „Virus Arcticum" befallen. Was ihn an der Gegend besonders fasziniert und wie er unter den Inuit echte Freunde fand, erzählt er im Gespräch mit KIT-Alumni.

Herr Dr. Walk, Sie studierten nach Ihrem pharmazeutischen Staatsexamen in Tübingen von 1955 bis 1958 in Karlsruhe Chemie und promovierten 1961 in pharmazeutischer Chemie. Wie ist Ihnen Ihre Studienzeit in Erinnerung geblieben?

WALK: Ich fühlte mich in der „Fächerstadt" Karlsruhe sofort sehr heimisch, was in erster Linie auf der guten Zusammenarbeit mit den Kollegen im pharmazeutischen Institut beruhte. Was mich schon in den ersten Tagen tief beeindruckte, war, dass der Direktor des physikalisch-chemischen Institutes (Prof. Günther) aus Anlass des damaligen Schiller-Jahres eine exzellente, wissensreiche Laudatio auf den Dichter vortrug. Und später, dass der Direktor des chemisch-technischen Instituts (Prof. Henglein) sich als ausgewiesener Goethe-Kenner erwies. Solch breiten Bildungsfundus hatte ich als zuvor „universitär Gebildeter" (der Universität Tübingen) an einer TH nicht erwartet. So etwas bleibt in Erinnerung! Und dann natürlich das Kennenlernen meiner ersten Frau, einer Pharmazeutin, die leider schon mit 45 Jahren an einem Hirntumor sterben musste.

Nach Ihrer Promotion und der Tätigkeit als Hochschulassistent gingen Sie in die Industrie, wo Sie bald Managementaufgaben übernahmen und als Berater im Gesundheitswesen arbeiteten. Fühlten Sie sich durch Ihr Studium gut auf die Arbeitswelt vorbereitet?

WALK: Auf die mich erwartende Arbeitswelt fühlte ich mich durch mein Doppelstudium und die ja auch Führungsaufgaben umfassende Tätigkeit als Semesterassistent sehr gut vorbereitet. In der Wirklichkeit war es dann so, dass ich in den ersten sieben Industriejahren als Pharmazeut bei Vertriebs- und Forschungs-, dann ersten Managementaufgaben gefragt war, danach im übergeordneten Chemiekonzern Personalleitungsfunktionen als Chemiker übernehmen konnte – seinerzeit war ich der einzige Personalleiter in der chemischen Industrie, der Pharmazeut war. Rückblickend erkenne ich hinsichtlich des Zuwachses an Kenntnissen und Erfahrungen einen „gleitenden" und nicht etwa abrupten Übergang von der Studienzeit in den Industriealltag. Was Eigenschaften angeht, meine ich, dass persönliche Anlagen mit fortschreitenden Aufgaben weiterentwickelt werden; das ist ein Reifungsprozess und nicht zuletzt auch eine Charakterfrage.

Nach Ihrem Ausstieg aus dem „normalen" Berufsleben reisten Sie 1995 erstmals in die Arktis. Warum interessierten Sie sich gerade für die Arktis?

WALK: Anlässlich meines 65. Geburtstags habe ich mit meiner (zweiten) Frau, einer Ärztin, 1994 Kanada von West nach Ost, von Victoria BC bis St. Johns NF, durchquert - mit der Eisenbahn oder (durch Neufundland) der entsprechender Buslinie. Dabei machten wir auch einen Abstecher zur Arktis – nach Churchill an der Hudson Bay, wo wir zum ersten Mal Eisbären in freier Wildbahn beobachten konnten. Auf dieser Reise begegneten wir in der Winnipeg Art Gallery erstmals der Inuit-Kunst, die uns als bis dahin intensive Sammler europäischer Gegenwartskunst spontan faszinierte. Wir erwarben erste Steinskulpturen – und mussten nun unbedingt die Schöpfer dieser kleinen Kunstwerke persönlich kennenlernen. Das heißt: Wir mussten zu ihnen reisen – in die kanadische Arktis. Das Reiseplanen hat uns dann einen Winter lang beschäftigt! Und im Sommer 1995 haben wir die Künstler schließlich in ihren Inuit-Siedlungen besucht.

Waren Sie von Anfang an fasziniert von der Gegend?

WALK: Man sagt: „In die Arktis reist man entweder zweimal – zum ersten und letzten Mal – oder immer wieder." Uns hat schlicht das „Virus arcticum" befallen, und so haben wir uns inzwischen bald 20 Mal in arktischen Gefilden aufgehalten. Von der Arktis – d. h. der Landschaft und deren Bewohnern wie auch den dort zu findenden Tieren und Pflanzen – geht eine Faszination aus, die sich einem erst allmählich erschließt, eine Beobachtung, die wir übrigens mit allen „Northernern" teilen.

Wie haben Sie Kontakt zu den einheimischen Inuit aufgebaut, wie wurden Sie von den Inuit „aufgenommen"?

WALK: Von unserer Reise 1994 her bestand ein Kontakt zu Reiseorganisatoren in Winnipeg, die uns Verbindungen zu Repräsentanten in den von uns in einen Reiseplan aufgenommenen Siedlungen vermittelten. Auf diese Weise wurde uns, wenn auch zunächst zögerlich, ermöglicht, unmittelbar bei Inuit in deren Behausungen zu wohnen– meist waren wir die ersten „Qallunaat" (Nicht-Inuit), die solches wünschten. Jedenfalls gewannen wir Freunde, die wir in den Folgejahren immer wieder besuchen durften und die z. T. auch uns hier in Deutschland besuchten, und konnten so unseren Radius stetig ausweiten.

Sie betätigen sich seit 1995 schriftstellerisch und schreiben vor allem über die Arktis. Was gab den Anstoß?

WALK: Ich erfülle mir damit einen seit den Studienzeiten gehegten, doch lange Zeit unerfüllbaren Wunsch. Einen Schwerpunkt bildet in der Tat die Arktis mit all ihrer Faszination, wobei mich in erster Linie naturwissenschaftliche Themen sowie Fragen zur gesellschaftlichen Entwicklung und zur bildenden Kunst der Inuit interessieren. Die auf meinen Reisen gewonnenen Erfahrungen und Kenntnisse halte ich allerdings nicht nur schriftlich fest, sondern auch mit einer Vielzahl von Fotografien, die meine Frau und ich gemeinsam aufgenommen haben. Außer den insgesamt sieben Arktisbüchern (z. T. in Zweitauflagen, eines auch für den englischsprachigen Raum) verfasste ich eine größere Anzahl von Broschüren mit arktischen Spezialthemen, gestaltete großformatige Wandkalender und schrieb daneben über moderne Gegenwartskunst.

Wie haben sich die Lebensbedingungen der Inuit in den vergangenen 15 Jahren verändert?

WALK: Wesentlich ist, dass die Inuit im Nordosten Kanadas nach jahrzehntelangen Verhandlungen erreichten, seit 1.4.1999 ein eigenes Territorium, nämlich Nunavut („Unser Land"), selbst zu verwalten. Die Inuit wurden so in die Lage versetzt, ihren ganz normalen Alltag in einem modernen Industriestaat eigenverantwortlich zu gestalten. Anlässlich des 10-jährigen Jubiläums von Nunavut 2009 habe ich für die Deutsch-Kanadische Gesellschaft einen Artikel (www.dkg-online.de/fileadmin/Downloads/DKG-Journal-1-2009.pdf) verfasst, der über die Veränderungen innerhalb dieser Zeit ausführlich berichtet. Hinweise darauf, was sich seit etwa Mitte des 20. Jh. verändert hat, als die nomadische Lebensweise in Camps durch ein Leben in Siedlungen abgelöst wurde (bedingt durch Nahrungsprobleme und Schulpflicht der Kinder), habe ich unter www.inuit-kultur.de skizziert.

Jüngst haben Sie erstmals die Antarktis bereist. Worin unterscheiden sich die beiden Gegenden am gravierendsten?

WALK: Ein Vergleich beider Regionen fällt schwer – etwa so, als wolle man eine Pferdekutsche mit einem PKW vergleichen. Bei der Antarktisreise handelte es sich um unsere zweite „Expeditionskreuzfahrt" überhaupt; die erste Kreuzfahrt dieser Art führte uns vor einem halben Jahr durch die Nordwestpassage (von Grönland bis Alaska). Beide Regionen sind „Eiswüsten", doch die Arktis ist im Sommer bis auf bestimmte Gebiete nördlich des Polarkreises meist eisfrei, die Antarktis dagegen auch nördlich des Südpolarkreises stark vereist. Die Antarktis ist deshalb, von Forschungsstationen abgesehen, menschenleer, die Arktis dagegen seit Jahrtausenden bewohnt und besitzt Geschichte und Kultur.

Ist auf einer Ihrer Reisen schon einmal etwas schief gegangen, waren Sie jemals in ernsthafter Gefahr?

WALK: In ernsthafter Gefahr haben wir uns glücklicherweise niemals befunden, etwa dadurch, dass wir in der Arktis einem Eisbärenangriff ausgesetzt gewesen wären. Als gefährlich sind in beiden Regionen jedoch immer die Unbilden der Natur einzuschätzen. Arktisreisen erfolgen gewöhnlich (von Schiffskreuzfahrten abgesehen) mit dem Flugzeug. Uns ist dabei nicht selten passiert, dass wir viele Tage lang wegen Nebels oder dichten Schneetreibens nicht fliegen konnten – bei Unfall oder plötzlicher schwerer Erkrankung ein hohes Risiko - dessen wir uns immer bewusst waren. Die Antarktis ist üblicherweise über große Entfernungen nur mit dem Schiff erreichbar. Auch hier stellt neben Sturm und starkem Wellengang Unfall oder Erkrankung mangels rascher Rettungsmöglichkeit ein hohes Risiko dar. In alle Planungen sollte man deshalb unbedingt die Erfahrungen und Verhaltensweisen der Inuit und auch der frühen Entdecker einbeziehen.

Welches war für Sie persönlich rückblickend die größere Herausforderung? Die Arbeit im Management oder der Aufenthalte in der Arktis?

WALK: Es fällt mir schwer, hier einen Vergleich zu ziehen. Management bedeutet, Verantwortung für viele zu übernehmen, Reisen in die Arktis dagegen für uns selbst und nur indirekt nachfolgend für andere. Ich empfinde beides jedenfalls als beglückende Herausforderung, die ich nicht missen möchte und mir immer wieder wünschen würde.